Gendergerechte Stadtplanung

An gendergerechter Schreibweise mit Sternchen oder Unterstrich und gesprochenen Pausen mit abgesetzter weiblicher Endung scheiden sich die Geister. Kritiker des Genderns von Sprache argumentieren, das generische Maskulinum sei geschlechtsindifferent und schließe daher Personen beiderlei Geschlechts ein. Lässt sich diese Argumentation auch auf die Prinzipien der Stadtplanung übertragen? Mary Dellenbaugh-Losse sagt nein.

Die Urbanistin sieht die Bedürfnisse von Frauen in der Gestaltung städtischer Räume bisher zu wenig berücksichtigt. So gingen Frauen häufiger zu Fuß und benutzten mehr öffentliche Verkehrsmittel als Männer. Laut einer Studie von URBACT, einem europäischen Unterstützungsprogramm für nachhaltige Stadtentwicklung in Europa aus dem Jahr 2019 legen Frauen 24 Prozent ihrer Strecken zu Fuß zurück, Männer nur 20 Prozent. Im Gegenzug benutzen Männer für die Hälfte ihrer Wege das Auto, Frauen sitzen nur bei 37 Prozent ihrer Wege hinter dem Steuer.


Wo ist das Problem?
Ein Unterschied wie Tag und Nacht
Der blinde Fleck in der Stadtplanung
Lebendigkeit als Schlüssel zu Sicherheit
Geschlechtsblinde Investitionen in öffentliche Infrastruktur
Beispiel öffentliche Toiletten: Frauen müssen zahlen, Männer nicht.
Beispiel Straßenbahnhaltestelle
Die Rückgewinnung der Stadt für alle

Wo ist das Problem?

Dass Frauen in der Stadt häufiger zu Fuß gehen als Männer, scheint auf den ersten Blick nicht weiter von Belang. Doch ein Ergebnis, das in diesem Zusammenhang nachdenklich stimmt, ist das einer Untersuchung von Plan International. Das Netzwerk von Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) setzt sich für die Gleichstellung von Jungen und Mädchen ein. Im Jahr 2020 hat es eine Umfrage mit knapp 1.000 Teilnehmerinnen durchgeführt. Dabei sollten die Befragten auf einer interaktiven Karte 1.267 markierte Orte in vier deutschen Großstädten bewerten. 80 Prozent dieser Orte wurden als unsicher und nur 20 Prozent wurden von ihnen als sicher wahrgenommen.

Ein Unterschied wie Tag und Nacht

Für Männer ist es in der Regel kein Problem, nachts allein von der Bushaltestelle oder U-Bahn-Station durch unbelebte oder schlecht beleuchtete Gegenden nach Hause zu gehen. Frauen hingegen haben sich ein ganzes Set an Vorsichtsmaßnahmen und Verhaltensweisen antrainiert, immer in der Hoffnung, diese Wege möglichst angstfrei und sicher hinter sich zu bringen: So tun, als ob man mit jemandem telefonieren würde, Schlüssel zwischen die Finger klemmen, Pfefferspray in der Tasche haben. In höchster Alarmbereitschaft wird jedes Geräusch, jeder Schatten und jede Bewegung registriert. Kein sehr angenehmer Zustand.

Der blinde Fleck in der Stadtplanung

Dellenbaugh-Losse, die nicht nur Urbanistin sondern auch freie Beraterin für soziale Inklusion und Gender-Partizipation in der Stadtplanung ist, sieht das Hauptproblem darin, dass Städte immer noch nicht genug auf die Sicherheit von Frauen hin geplant würden. „Es gibt nicht genug Frauen in der Stadtplanung und der Architekturbranche. Das ist ein riesiger blinder Fleck“, so die Urbanistin, in einem Interview mit dem Online-Magazin „Enorm“ während eines Spaziergangs durch verschiedene Berliner Stadtquartiere.

Lebendigkeit als Schlüssel zu Sicherheit

Das beste Merkmal einer guten Stadtplanung sei eine multitemporale Nutzung, so die Beraterin. Geschäfte mit unterschiedlichen Öffnungszeiten wie Bäckereien, Bars und Spätis (Spätkaufkläden) können hierzu wesentlich beitragen. Klingt einleuchtend, doch leider wirken sich die Coronapandemie und die Preissteigerungen in Folge des Ukrainekrieges sowie nicht zuletzt auch der Online-Handel auch auf die Vielfalt der Geschäfte und Lokalitäten in den Städten aus. Zunehmender Leerstand ist die Folge. Und darunter leidet dann auch die Lebendigkeit der Städte.

Geschlechtsblinde Investitionen in öffentliche Infrastruktur

Eine weitere Auffälligkeit, die Dellenbaugh-Losse benennt: Ein Großteil der geförderten Projekte im öffentlichen Raum sei männlich dominiert. So entstünden in großer Selbstverständlichkeit Fußballplätze, Basketballplätze und Skateparks, ohne dabei vorab zu betrachten, ob diese aus öffentlichen Geldern finanzierten Angebote den Bedürfnissen und Interessen von Männern und Frauen, Jungen und Mädchen in gleicher Weise Rechnung tragen. Aus diesem Grunde dürfe die Gestaltung dieser Räume nicht geschlechtsblind sein. Vielmehr müsse das Geschlecht Teil der Nutzergruppenanalyse in der Stadtplanung sein.

Beispiel öffentliche Toiletten: Frauen müssen zahlen, Männer nicht.

Zur Verdeutlichung ungleicher Behandlung gleicher Bedürfnisse zieht die Urbanistin in ihrem nächsten Beispiel den Gleichstellungsbericht der Bundesregierung von 2019 heran. Demzufolge verrichten Frauen 53 Prozent mehr Pflegearbeit als Männer. Wer sich deutlich häufiger mit Kindern oder älteren Menschen draußen aufhält, benutzt demzufolge auch regelmäßig öffentliche Toiletten. Vor diesem Hintergrund sei es erst recht schwer nachvollziehbar, wenn in einem öffentlichen Park neue WCs gebaut würden, deren Benutzung kostenpflichtig ist, die Benutzung der vorhandenen Pissoire hingegen kostenlos.

Hier mag man einwenden, dass Männer von Natur aus eher eine größere Bereitschaft zum Wildpinkeln an den Tag legen als Frauen, was nicht nur in öffentlichen Anlagen ein Problem darstellt. So kann das Angebot kostenloser Bedürfnisanstalten für Männer auch als Versuch betrachtet werden, dieses Problem einzudämmen. Der Vorwurf der Ungleichbehandlung ist jedoch berechtigt.

Beispiel Straßenbahnhaltestelle

Früher waren Straßenbahnen alles andere als barrierefrei. Hinter der sich öffnenden Tram-Tür mussten eilig zwei bis drei steile Stufen erklommen werden. Moderne Niederflurbahnen sind da schon deutlich bequemer. Beim Einsteigen gibt es lediglich eine niedrige Stufe zu überwinden. Für einen Fußgänger ohne Handicap kein Problem. Wer jedoch schwere Einkaufstaschen zu schleppen hat, einen Kinderwagen schiebt oder im Rollstuhl sitzt, für den bleibt auch diese kleine Schwelle ein beträchtliches Hindernis. Wenn dieses fahrzeugbedingte Hindernis nun durch Anheben der Bordsteinkante der Haltestelle eingeebnet wird, käme dies letztlich allen Menschen zugute, so Dellenbaugh-Losse.

Die Rückgewinnung der Stadt für alle

Die Abkehr vom Ideal der autogerechten Stadt hin zur fußgängergerechten Stadt zeichnete sich als Transformationsprozess in den Städten bereits seit mehreren Jahrzehnten ab. Es wuchs das Bewusstsein, wie sehr der Aktionsraum der Fußgänger durch Barrieren und Hindernisse der autogerechten Stadt bestimmt war:
  • Umwege an Kreuzungen
  • fehlende Querungsmöglichkeiten zwischen den Knotenpunkten
  • unbequeme Über- oder dunkle Unterführungen
  • lange Wartezeiten an Ampeln

Doch die Frage, die sich auch heute noch vielfach stellt: Genügt es, die durch die autogerechte Stadt auferlegten Barrieren und Hindernisse zu eliminieren? Offenbar nicht. Denn erst eine Stadt, die nicht nur fußgängergerecht sein will, sondern den Belangen und Bedürfnissen ihrer Bewohner hinsichtlich Mobilität, Sicherheit und Nutzbarkeit umfassend Rechnung trägt, kann für sich in Anspruch nehmen, menschengerecht zu sein. Die genderspezifische Betrachtungsweise weist in die richtige Richtung. Erweitert um den Anspruch der barrierefreien Stadtraumgestaltung für alle führt dieser Weg dann zum Ziel.


 

 

 


Foto: ArTo

Merken