Schlauer dank Dummys - Neues aus der Unfallforschung

Ihr Alltag ist ein einziges Desaster. Tag für Tag halten sie den Kopf hin, sitzen in Fahrzeugen, die ineinander krachen oder mit voller Wucht gegen Betonwände und andere Hindernisse prallen. Vollgestopft mit Sensoren liefern Crashtest-Dummys wichtige Daten zu den dabei auf sie wirkenden Kräften. Wie gut diese Daten helfen, die Fahrzeuge für Menschen sicherer zu machen, hängt auch davon ab, wie gut die Dummys uns nachempfunden sind. Aber müssten sie dann nicht auch Verletzungen davontragen?


Die Hybrid-III-Familie
Verwandte mit Spezialaufgaben
Was Hybrid-III- und Biofidel-Dummys unterscheidet
Realistische Dummys – realistische Resultate
Blessuren statt Sensoren
Erweitertes Aufgabengebiet für Biofidel-Dummys
Zuwachs für die Dummy-Familie
Chancen für die Unfallforschung

Die Hybrid-III-Familie

Im Jahr 1978 präsentierte General Motors mit dem Hybrid III den „50-Prozent-Mann“, der mittlerweile weltweit der gebräuchlichste Crashtest-Dummy ist. Er ist ein Urenkel von „Sierra Sam“, dem ersten Crashtest-Dummy überhaupt. 1949 von der Firma Sierra Engineering gebaut, versah Sierra Sam seinen Dienst in der amerikanischen Luftwaffe. Auf Raketenschlitten geschnallt und auf bis zu 1000 km/h beschleunigt, wurden mit ihm Schleudersitze und Gurte getestet.

Doch nicht nur der Weiterentwicklung von Flug- und Fahrzeugen wurde viel Forschungsarbeit gewidmet. Auch die Fähigkeiten der Crashtest-Dummys wuchsen mit ihren Aufgaben. Dummys der Generationen I und II waren bereits mit Sensoren zur Messung von Beschleunigungskräften ausgestattet. Doch diese Modelle genügten der für Fahrzeugsicherheit zuständigen amerikanischen Behörde NHTSA noch nicht. Und so erhielt General Motors den Auftrag, eine verbesserte Version zu entwickeln.

Der Hybrid-III-50-Prozent-Mann ist 175 cm groß und 78 kg schwer. Mit diesen Werten entsprach er laut Hersteller seinerzeit dem durchschnittlichen männlichen Autofahrer. Fachgebiet des 50-Prozent-Manns sind Frontal-Crashs. Inzwischen gibt es eine ganze Hybrid-III-Familie. Auffallend dabei: Das weibliche Pendant repräsentiert nicht die Durchschnittsfrau, sondern ist mit 152 cm Körpergröße und 52 kg Gewicht deutlich zierlicher ausgelegt. Lediglich 5 Prozent der weiblichen Bevölkerung sind kleiner und leichter als sie.

Verwandte mit Spezialaufgaben

Daneben gibt es noch eine Reihe weiterer Dummys, die bei bestimmten Tests eingesetzt werden:

  • SID (Side Impact Dummy):
    für die Simulation von Seitenaufprall-Unfällen sind sie in einer europäischen und einer US-amerikanischen Ausführung verfügbar
  • BioRID II (Biofidelic Rear Impact Dummy):
    mit biomechanisch nachempfundener Wirbelsäule für Versuche mit Heckaufprall zum Testen von Kopfstützen und Sitzen
  • EvaRID:
    digitales Modell, das einer durchschnittlichen Frau nachempfunden ist und bei Computersimulationen zum Einsatz kommt
  • CRABI:
    zum Testen von Kindersitzen, in verschiedenen Ausführungen, ausgelegt auf die Altersstufen sechs, zwölf und achtzehn Monate
  • THOR:
    Weiterentwicklung des Hybrid-III-Dummys mit noch sensibleren und zusätzlichen Sensoren, u.a. zur Erfassung von Gesichtsverletzungen

Dass der männliche Hybrid-III-Dummy ein weltweiter Standard ist, liegt auch an den Vorgaben, die die zuständigen Gesetzgeber den Fahrzeugherstellern machen. Hierzulande ist die Wirtschaftskommission für Europa (UNECE) zuständig. Ihre ECE-Regelungen für Sicherheitsgurte, Frontalaufprall und Seitenaufprall sind in erster Linie am männlichen Körperbau ausgerichtet. Infolgedessen kommt bei den Testverfahren der 50-Prozent-Mann-Dummy zum Einsatz. Dass es nicht ganz unproblematisch ist, wenn weibliche Anatomie dabei unberücksichtigt bleibt, zeigen jüngere Untersuchungen zu geschlechtsblinder Unfallforschung (wir berichteten).

Was Hybrid-III- und Biofidel-Dummys unterscheidet

Hybrid-III-Dummys sind darauf ausgelegt, die auf sie einwirkenden Beschleunigungen und Kräfte zu messen, ohne jedoch dabei zerstört zu werden. Ihr Skelett besteht aus Stahl und Aluminium, der Schädel aus Aluguss. Die Rippen sind aus Stahl und Polymerwerkstoffen geformt. Gummischeiben zwischen den Wirbelkörpern machen die Wirbelsäule flexibel. Die Gelenke der Gliedmaßen werden mit Schrauben zusammengehalten. Das Ganze ist in Schaumstoff gekleidet und mit einer elastischen Vinylhaut überzogen. Derart robust ausgestattet, sind Hybrid-III-Dummys hart im Nehmen. Und falls doch mal etwas zu Bruch geht, wird es ausgetauscht.

Ganz anders verhält es sich bei den Biofidel-Dummys, die in der Untersuchung von Fahrzeugkollisionen mit Fußgängern eine Rolle spielen. Sie waren ursprünglich als Hilfsmittel der Unfallrekonstruktion dazu erdacht, als „Fußgänger“-Ersatz realitätsnahe Beschädigungen am Fahrzeug zu verursachen. Denn bei Fußgängerunfällen gibt es, anders als beim Zusammenstoß zweier Fahrzeuge, keine Schlagmarken oder Kratzspuren auf dem Fahrbahnbelag, aus denen sich Rückschlüsse ziehen lassen.

Realistische Dummys – realistische Resultate

Hybrid-III-Crashtest-Dummys sind für diese Art von Unfallforschung nicht geeignet, da sie für andere Kollisionsarten konzipiert sind. Aufgrund ihrer Beschaffenheit würden sie außerdem viel stärkere Schäden am Fahrzeug verursachen als ein echter Mensch. Fehlinterpretationen, die in Gutachten für Gerichtsverfahren zu falschen Annahmen und damit auch gravierenden Fehlurteilen führen könnten, wären die Folge. (Interessant dazu auch das Interview mit dem Biomechaniker von DEKRA, Andreas Schäuble, für DEKRA solutions.)

Endlage eines Biofidel-Dummys als Fußgänger-Surrogat nach einer Kollision mit 75 km/h
Biofidel-Dummy nach Kollision mit einem 75 km/h schnellen PKW, Foto: DEKRA

Blessuren statt Sensoren

Biofidel-Dummys hingegen enthalten auf Wunsch erst in manchen Modellen der neuesten Generation einige Sensoren. Auskunft über das Unfallgeschehen geben sie vielmehr in Gestalt der Spuren, die sie am Fahrzeug hinterlassen und durch die Art der Verletzungen, die sie davontragen. Denn anders als die Hybrid-III-Dummys besteht ihr Körper aus Material, das dem Bruch- und Dehnverhalten unserer Knochen und unseres Gewebes sehr ähnlich ist.

Statt Sensordatenauswertung steht beim Biofidel-Dummy die Obduktion an. Er wird ähnlich wie bei einer Leichenschau geöffnet und auf gebrochene Knochen und verletzte Bänder hin betrachtet. Zudem kann er auch wie ein Patient per Computer-Tomographie untersucht und anhand der Bilder anschließend diagnostiziert werden.

Sicht von unten auf einen Schnitt durch den Thorax des Biofidel-Dummys entlang der transversalen Ebene in einer 2D-koronalen PMCT-basierten Rekonstruktion, wobei der linke Pfeil eine herausgelöste Rippe und der rechte Pfeil eine noch eingeklinkte Rippe markieren
CT-Aufnahme eines Biofidel-Dummys nach Crashtest. Die Aufnahme zeigt eine Rippenverletzung. Pfeil links: ausgelöste Rippe, Pfeil rechts: noch eingeklinkte Rippe. Foto: DEKRA
Fraktur des inneren Schienbeingelenkskopfes und Verletzungen des Bandapparates
Biofidel-Dummy auf dem Obduktionstisch: Fraktur des inneren Schienbeingelenkskopfes und Verletzungen des Bandapparates. Foto: DEKRA
Unbekleideter Biofidel-Dummy, Foto: DEKRA
Unbekleideter Biofidel-Dummy, Foto: DEKRA
Biofidel-Dummy ohne seine Kunststoffhaut, Foto: DEKRA
Biofidel-Dummy ohne seine Kunststoffhaut, Foto: DEKRA

Organschädigungen sind auch per Biofidel-Dummy nicht simulierbar. Dies war eher die Domäne von Crashtests mit Leichen, die bis in die späten 1980er-Jahre vereinzelt praktiziert wurden. Sie haben bei der Entwicklung von Rückhaltesystemen wie Gurt und Airbag eine Rolle gespielt und dazu beigetragen, Leben zu retten.

Doch neben den ethischen Problemen – das Thema wurde von allen Automobilherstellern äußerst diskret behandelt – gab es auch technische Probleme mit der Verwertbarkeit der in diesen Versuchen gewonnenen Daten: Die dabei verwendeten Körper entsprachen nicht unbedingt dem repräsentativen Durchschnitt. Wer sich in das Thema vertiefen möchte, findet hier einen Artikel im Wired-Magazin aus dem Jahr 2010. (Wir weisen darauf hin, dass dieser Artikel auch Bilder enthält.)

Erweitertes Aufgabengebiet für Biofidel-Dummys

Ursprünglich war der Biofidel-Dummy dazu gedacht, in der Unfallrekonstruktion realistische Unfallspuren am Fahrzeug zu erzeugen. Doch im Zuge dieser Arbeiten kam man auf die Idee, von den Verletzungen an den Dummys auch auf die möglichen Verletzungen echter Menschen in der vergleichbaren Unfallsituation zu schließen.

Der aktuell in der Unfallforschung von DEKRA verwendete Biofidel-Dummy ist wie das Hybrid-III-Pendant am 50-Prozent-Mann orientiert. Um mit Blick auf die Probleme geschlechtsblinder Unfallforschung zu erfahren, ob es auch weibliche Biofidel-Dummys gibt, haben wir uns direkt an die DEKRA-Unfallforschung gewandt.

Wie wir von Herrn Schäuble erfuhren, sind gegenwärtig keine Biofidel-Dummys mit anderen bzw. weiblichen Körperspezifikationen in Gebrauch. Deren Entwicklung sei aber möglich, sobald ausreichende Erfahrungen mit dem realistischen Verhalten des Biofidel-Dummys vorlägen. Der Vorteil des Biofidel-Dummys als 50-Prozent-Mann-Version: Die Ergebnisse lassen sich mit denen des Hybrid-III-Crashtest-Dummys vergleichen.

Zuwachs für die Dummy-Familie

Der Unfallforscher verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass andere Dummy-Hersteller bereits an zwei weiteren Crashtest-Dummy-Modellen arbeiteten. Der „Elderly Female Dummy“ sei der Anatomie einer 70-jährigen Fahrzeuginsassin nachempfunden. Erste Crashtests mit diesem Senioren-Dummy hätten das erhöhte Verletzungsrisiko im Unfallgeschehen dieser Personengruppe sehr gut widergespiegelt.

Ein ebenfalls neu entwickelter „Obese Dummy“ repräsentiere einen übergewichtigen Mann mit 124 kg Körpergewicht. Tests mit ihm hätten gezeigt, dass Rückhaltesysteme schneller an ihre Belastungsgrenze kommen können.

Herr Schäuble betonte, dass der Biofidel-Dummy in erster Linie ein Hilfsmittel für die rückblickende Betrachtung von Unfällen sei und in der Entwicklung von Fahrzeugen oder Fahrzeugkomponenten gegenwärtig nur sehr begrenzt einsetzbar. Grenzen sieht er auch bei den Möglichkeiten, mit Biofidel-Dummys geschlechtsspezifische biologische Neigungen zu bestimmten Verletzungsarten nachzuvollziehen.

Chancen für die Unfallforschung

Potential für die Arbeit mit den Biofidel-Dummys sieht der DEKRA-Unfallforscher, der auch als AIS-Spezialist zertifiziert ist, in der Nutzung des gleichnamigen international gültigen Messsystems. Die Abbreviated Injury Scale (AIS) listet einzelne Verletzungen einschließlich Verletzungsgrad von Menschen mittels eines exakt definierten Codes auf. Sie enthält mittlerweile über 4.000 Einträge.

Im Zusammenspiel mit der GIDAS-Datenbank (German In-Depth Accident Study), der DEKRA-Unfalldatenbank sowie externen Statistiken sei es möglich, so Schäuble, Unfallszenarien mit hoher Häufigkeit und Verletzungsschwere zu identifizieren und die dabei auftretenden Verletzungsarten alters- und geschlechtsspezifisch zu ermitteln. Sobald die Unfallszenarien im Crashtest mit dem Biofidel-Dummy nachgestellt wurden, gehe es dann darum, herauszufinden, ob die beim Menschen aufgetretenen Verletzungen auch der Biofidel-Dummy zeigt und ob dieser ggf. noch mehr der menschlichen Biomechanik angepasst werden muss.

Wenngleich in Zukunft auch rein rechnergestützte Simulationen eine immer größere Rolle spielen dürften: Eine echte Abbildung sämtlicher körperlichen Verfassungen und Eigenschaften dürfte mit Dummys, gleich welcher Bauart, auch weiterhin kaum möglich sein. Bleibt zu hoffen, dass die Fortschritte bei den Systemen für das Autonome Fahren ebenfalls dazu beitragen, die Fortbewegung für alle Verkehrsteilnehmer noch sicherer zu machen.


 

 

 


Illustration: blueringmedia

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