Die unerkannte Unfallursache

Immer häufiger steht die Polizei bei Verkehrsunfällen vor einem Rätsel:
Der Unfallhergang lässt sich erklären, aber nicht dessen Ursache. „Andere Fehler beim Fahrzeugführer“ lautet dann der Eintrag im amtlichen Unfallursachenverzeichnis. Die üblichen Verdächtigen – Alkohol, überhöhte Geschwindigkeit sowie andere messbare Ursachen – scheiden als Erklärung aus. Unfallforscher hingegen hegen einen handfesten Verdacht: Medikamenteneinfluss.

68.571 Unfälle mit Toten und Verletzten sowie 11.826 Crashs mit großem Sachschaden blieben den Daten des Statistischen Bundesamts zufolge im Jahr 2015 letztlich ungeklärt. Laut manchen Schätzungen geht jeder vierte Unfall in Deutschland direkt oder indirekt auf die Einnahme von Medikamenten zurück. Mit großer Sorge betrachten daher Rechtsmediziner und auch der Deutsche Richterbund das Vorhaben der Bundesregierung, die Blutprobe abzuschaffen. Denn mit ihr lassen sich, neben Alkohol und Drogen, eben auch Medikamente zuverlässig nachweisen.

    Kontroverse Interessenlage

    „Bei Verkehrsdelikten streben wir an, zur Bestimmung der Blutalkoholkonzentration auf körperliche Eingriffe zugunsten moderner Messmethoden zu verzichten. Eine Blutentnahme wird durchgeführt, wenn der Betroffene sie verlangt.“
    So lautet die entsprechende Passage im Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2013.
    (Deutschlands Zukunft gestalten, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 18. Legislaturperiode, S. 146)

    „Ich bin absolut dagegen, Blutproben abzuschaffen und nur noch auf Atemalkoholtests zu setzen. Die Blutprobe hat sich im Strafprozess als sehr verlässliches Instrument der Beweisführung bewährt – auch zugunsten der Betroffenen. Sie ist unverzichtbar“,
    so Christoph Frank, Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, in einem Interview mit der Neuen Osnabrücker Zeitung Anfang des Jahres.

    Rainer Wendt, Bundesvorsitzender der Polizeigewerkschaft, hingegen begrüßt das Vorhaben der Bundesregierung.

    „Blutproben kosten die Polizei Zeit. Oftmals ist es schwer, einen Richter zu erreichen, der dann die Blutabnahme anordnet. Des Weiteren muss auch ein Arzt gefunden werden, der das Blut dann abnimmt. Das kann schon mal bis zu fünf Stunden dauern. Dadurch kommt es zu Verzögerungen. Dies betrifft vor allem den Nachtdienst, wenn die Wachen nicht so stark besetzt sind“,
    so Wendt in einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen Anfang 2016.
    Doch er betont auch:
    „Die Blutprobe soll nur für Alkoholfahrten ohne Unfall abgeschafft werden.“

    Beide Positionen scheinen verständlich. Während es den einen darum geht, Ursachenforschung zu ermöglichen und Beweismaterial zu sichern, möchte die andere Seite den Aufwand zur Ahndung von Alkoholverstößen auf ein notwendiges Maß reduzieren. Aber was ist mit Autofahrern, die unter Medikamenteneinfluss stehen, zwar keinen Unfall verursachen, aber ein auffälliges Fahrverhalten an den Tag legen? Bei ihnen wäre ein Atemalkoholtest wenig zweckmäßig.

    Den Ursachen auf den Grund gehen

    Genau hier setzt die Argumentation der Verkehrs- und Rechtsmediziner an. Dass Erkrankungen und Medikamente im Unfallgeschehen viel häufiger eine Rolle spielen als angenommen, davon ist auch der Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel überzeugt.

    „Verkehrsunfälle passieren nicht, sie werden verursacht!“,
    so Püschel beim 10. Gemeinsamen Symposium der Verkehrsmediziner und -psychologen (DGVM und DGVP) 2014 in München. Und um diesen Ursachen auf den Grund gehen zu können, bedürfe es u.a. eben auch der Entnahme von Blutproben.

    Die tägliche Dosis Risiko

    Im Jahr 2015 wurden deutschlandweit in Apotheken Medikamente im Wert von 50,2 Mrd. Euro verkauft, knapp 5 % mehr als im Vorjahr. Verkehrsmediziner gehen davon aus, dass jedes fünfte Präparat Aufmerksamkeit, Reaktions- und Wahrnehmungsvermögen beeinträchtigt. Untersuchungen belegen, dass Schmerzmittel das Unfallrisiko um das 2,5-fache, Schlaf- oder Beruhigungsmittel sogar um das 3,5-fache steigern können.

    Psychopharmaka zur Behandlung von Depressionen, an denen laut Robert-Koch-Institut hierzulande geschätzt sechs Millionen Menschen leiden, wirken sich ebenfalls negativ auf die Fahrfähigkeit aus. Auch der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) warnt auf seiner Website, dass diese Medikamente Schläfrigkeit, Schwindel oder Koordinationsstörungen verursachen und zu einem risikoreicheren Verhalten im Straßenverkehr führen. Hinzu kommt, dass immer mehr Menschen auf Antidepressiva angewiesen sind. Seit 2000 hat sich die Zahl der von Ärzten verordneten Tagesdosen verdreifacht.

    Darüber hinaus sollen in Deutschland 1,2 bis 1,5 Millionen Menschen abhängig von Schlaf- und Beruhigungsmitteln sein. Zu diesen Zahlen kommt der Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske. Errechnet hat er sie auf Grundlage von Daten, die Insight Health der Wochenzeitung ZEIT exklusiv zur Verfügung gestellt hatte.

    Alles in allem scheint die Ursachenerklärung der Verkehrsmediziner für die rätselhaften Unfälle ebenso beunruhigend wie plausibel. Bleibt die Frage, ob und wie Ärzte, behördlich angeordnete Blutproben sowie Patientenaufklärung dazu beitragen können, das Risiko medikamenten- und krankheitsbedingter Unfälle zu reduzieren.

    Praktizierte Verantwortung als Gegenmittel

    Hoffnung macht eine vom Hamburger Rechtsmediziner Klaus Püschel zitierte kanadische Studie. Ihr zufolge lässt sich das Unfallrisiko von Patienten halbieren, wenn sie von ihrem Arzt vor den Wirkungen ihrer Medikamente auf die Fahrtauglichkeit gewarnt werden.

    Übrigens:
    Auch rezeptfreie Arzneimittel sollten ohne ärztlichen Rat nicht über einen längeren Zeitraum angewendet werden, empfiehlt Dr. Wiete Schramm, Fachärztin für Arbeitsmedizin beim TÜV Rheinland:

    „Mögliche Nebenwirkungen und Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten können zu verminderter Aufmerksamkeit, längeren Reaktionszeiten, Gleichgewichtsstörungen oder auch zu Schwindel und Übelkeit führen.“

    Das richtige Maß für Prävention und Sanktion

    Handlungsbedarf besteht allerdings auch auf dem Feld der verkehrsmedizinischen Risikoforschung. Denn es muss geklärt werden, welche Risiken die einzelnen Wirkstoffe und Krankheiten mit sich bringen und wie sie in Bezug auf die Fahrfähigkeit zu bewerten sind. Dafür fehlt, anders als beim Alkohol, bisher noch ein praxistauglicher Risikomaßstab. Und der ist noch aus einem weiteren wichtigen Grund relevant: Haftungsfragen.


    Fotonachweis: Photographee.eu