Innovative Verkehrskonzepte:Wie eine Hochbahn zur Radbahn wird

Wenn Städte wachsen, dann müssen sie auch dem steigenden Verkehrsaufkommen gewachsen sein. Vorhandenes intelligent und anders zu nutzen, kann ein Schlüssel dazu sein. In Berlin hat eine Initiative unter dem Namen Radbahn ein Konzept entwickelt, mit dem sich die ungenutzte Fläche unter einer Hochbahntrasse in einen überdachten Radweg verwandeln ließe.

Das achtköpfige internationale Team unterschiedlichster Disziplinen, darunter Architekten und Stadtplaner, hat dabei ein ganz bestimmtes Objekt im Visier: Die rund neun Kilometer lange Hochbahntrasse der von Ost nach West verlaufenden U-Bahn-Linie 1.

Das Argument der Radbahn-Planer: 80 % der Strecke sind bereits fertig. Die Herausforderung besteht nun darin, die fehlenden 20 % noch zu ergänzen. Die Idee ist so einfach wie bestechend. Im Netz erfreut sich das Projekt großer Beliebtheit. Rund 6.000 Likes sammelte die Radbahn-Facebookseite innerhalb der ersten drei Tage nach Veröffentlichung. Zudem erhielt das Konzept auch den Bundespreis Ecodesign 2015.

Skizze zu Radbahn-Projekt
Die Radbahn verknüpft sich aktiv mit dem guten Berliner Nahverkehrsnetz, den Car- und Bike-Sharing-Anbietern und hofft, in Zukunft ein kleines Stück von einem großflächigen Radwegenetz in der Stadt zu sein.

Und was sagen Stadtverwaltung und Verkehrsexperten dazu?

Grünen-Verkehrsexperte Stefan Gelbhaar hält die Radbahn für ein innovatives, spannendes Projekt, wenngleich es bei der baulichen Realisierung und Finanzierung sicher noch auf dem Prüfstand stünde. „Doch ich bin sicher, dass man durch die Radbahn mit dem Fahrrad schneller unterwegs wäre als mit der U-Bahn“, so Gelbhaar in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung. Die Bedenken der Senatsverwaltung, dass es sich bei den Flächen unter der Hochbahn um sehr sensible Bereiche handele, die nur eingeschränkt und unter hohen Kosten nutzbar seien, teilt er indes nicht. Und er verweist dabei auf Barcelona, wo es auch Radwege auf dem Mittelstreifen von Fahrbahnen gibt.

Die Fahrradlobby ist skeptisch.

Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC), der sich auf seiner Website auch zu diesem Projekt äußert, zeigt sich von dem Radbahn-Konzept wenig begeistert. So bemängelt der Fahrradclub die zu geringe Trassenbreite. Statt der vom ADFC geforderten 3,50 m Mindestbreite für den geplanten Zweirichtungsverkehr betrage diese stellenweise nur 2 m. Auch auf die Trasse mündende U-Bahnausgänge, die die Radverkehrsführung erschweren, sieht er als Problem.

Die Querungen von Straßen und Wasserläufen, die das Radbahn-Konzept durch Anheben des Streckenverlaufs zu überbrücken plant, sind aus ADFC-Sicht für ungeübte Radfahrer unzumutbar und nicht mit den Anforderungen an gute Radinfrastruktur vereinbar. Auch, dass bei der Radwegeführung zu wenig Platz sei für ein- und abbiegende Radfahrer, die nur einen Teil Radbahnstrecke befahren, stellt für den ADFC ein großes Manko dar.

Unter Verweis auf den Beschluss der ADFC Bundeshauptversammlung vom November 2015 betont der Fahrradclub, dass Teilkonzepte wie die Radbahn auch im Gesamtkontext der Stadt funktionieren müssen:

„Wir treten für die Umverteilung des Verkehrsraums in den Kommunen zugunsten des Fuß- und Radverkehrs und zulasten des ruhenden und fließenden motorisierten Individualverkehrs (MIV) ein. Unser Ziel ist die Schaffung einer Verkehrsinfrastruktur, auf der alle sicher, komfortabel und zügig Rad fahren können.“

Abhaken oder weitermachen?

Jetzt kann man sich darüber streiten, ob die Ablösung des Ideals der autogerechten Stadt durch das Ideal der fahrradgerechten Stadt die Lösung aller Probleme ist. Sind immer nur Lösungen akzeptabel, deren Funktionieren zu hundert Prozent und vorab garantiert werden kann? Gibt es solche Lösungen überhaupt?

Als Automobil- und Verkehrssicherheitsclub versteht sich der BAVC nicht als Lobbyist einzelner Verkehrsteilnehmergruppen. Doch als Fürsprecher eines rücksichts- und verantwortungsvollen Umgangs im mobilen Miteinander wirbt er für die Bereitschaft aller, auch für unkonventionelle Lösungen offen zu sein. Und das bedeutet u.a. auch zu prüfen, ob und bis zu welchem Grad die Probleme eines solchen Konzepts lösbar sind.

Radbahn-Skizze
Dort, wo heute Treppen verlaufen, werden Rampen gelegt. Die Radbahn ist nicht schwer und kann an das Hochbahnviadukt angehängt werden, um anderen Verkehrsteilnehmern auszuweichen.

Dass das Radbahn-Team zu unkonventionellen Lösungen in der Lage ist, hat es mit seinem Konzept ja bereits bewiesen. Und wie realistisch ist es, dass die vom ADFC aufgestellten Forderungen zu Spurbreiten und Verkehrsführung in einer gewachsenen Stadt wie Berlin ohne Abstriche und zu vertretbaren Kosten durch- und dann auch umgesetzt werden können?

Radbahn-Skizze
Die Radbahn schlängelt sich so teilweise durch die Stadt und könnte als hängende Fahrbahn unter der Brücke über den Landwehrkanal gedacht werden.

Was kostet und was bringt es?

Eine belastbare Kostenkalkulation zu den Baukosten der Radbahn ist in Arbeit. Alle an dem Projekt Beteiligten sind berufstätig und opfern dem Projekt ihre Freizeit. Mit einer soliden finanziellen Ausstattung könnten sie sich dem Projekt ganz widmen. Dass es Potential hat in einer Stadt wie Berlin, lässt sich aber auch mit anderen Zahlen vor Augen führen.

Stadt auf zwei Rädern

Eigentlich hat Berlin, wo täglich ein halbe Million Menschen aufs Rad steigen, das Zeug dazu, Fahrradhauptstadt zu sein. Während bundesweit 550 Autos auf 1.000 Einwohner kommen, sind es in Berlin nur 341 Autos pro 1000 Einwohner. Gleichzeitig ist das vorhandene Radwegenetz, vorsichtig ausgedrückt, nicht im allerbesten Zustand. Überdies ist Radfahren in der Hauptstadt nicht ganz ungefährlich: 2015 starben in Berlin 10 Radfahrer bei Verkehrsunfällen. Seit Anfang 2016 sind bereits 14 Radfahrer tödlich verunglückt (Stand 24. Oktober 2016).

Steine im Weg

Bei den Ausgaben für die Verkehrsinfrastruktur in Berlin sind für den Zeitraum 2013 bis 2022 insgesamt 473 Mio. € für 3,2 Kilometer Autobahn A100 vorgesehen. Dieser Autobahnabschnitt zählt damit zu den teuersten, die je gebaut wurden*. Kurioserweise werden in Berlin für die Verbesserung der Radwege bereitgestellte Mittel nicht abgerufen.

Laut dem Berliner Tagesspiegel verfiel 2014 die Hälfte der bereitgestellten vier Millionen Euro ungenutzt. So sei es „ein offenes Geheimnis, dass in Berlin viele Bauprojekte wegen Personalmangel bei Verkehrslenkung und Tiefbauämtern liegen bleiben.“ Davon ausgehend, dass die Kosten für 1 km Radweg deutlich unter denen für 1 km Autobahn liegen, sollte bei einer Neugewichtung der Prioritäten bei den Investitionen also durchaus genügend Spielraum sein für Projekte wie die Radbahn. Vorausgesetzt, die Mittel werden auch abgerufen.

Die entscheidende Frage

Wir sind es inzwischen gewohnt, dass Flughäfen, Bahnhöfe und Opernhäuser plötzlich Milliarden mehr kosten als ursprünglich veranschlagt. Aber werden sie deshalb nicht fertig gebaut? Prognosen zufolge werden im Jahr 2025/2030 über vier Millionen Menschen in Berlin leben, mindestens eine halbe Million mehr als heute. Die richtige Frage – in Berlin und anderswo – lautet also:

Was ist es uns wert, dass wir uns künftig noch ressourcenschonender, sicherer und nachhaltiger per Bahn, Bus, Fahrrad und ja – auch per Auto – fortbewegen als heute? Und zu welchen Kompromissen sind wir dafür bereit?

Weitere Informationen zum Radbahn-Projekt:




Fotonachweis: Radbahn Berlin




* Quelle: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Stephan Kühn (Dresden), Matthias Gastel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 18/5670 –