Gelebte Rücksicht

Schwarze Schrift auf gelbem Grund – halte Abstand, bleib gesund. Autofahrer mit niederländischem Kennzeichen müssen hierzulande eine Menge Spott über sich ergehen lassen. Dabei dürften sie kaum schlechter oder besser Auto fahren als ihre östlichen Nachbarn mit den weiß-schwarzen Blechplättchen. Und in einem Punkt haben sie der Fahrkultur hierzulande sogar etwas voraus.

Der „Dutch Reach“ – deutsch „Holländer-Griff“ – ist in den Niederlanden in vielen Fahrschulen fester Bestandteil der Ausbildung. Der ebenso einfache wie geniale Griff besteht darin, die Autotür mit der jeweils entfernteren Hand zu öffnen: linke Tür mit rechter Hand, rechte Tür mit linker Hand. Auf diese Weise dreht sich der Oberkörper automatisch in die richtige Richtung und erleichtert den Schulterblick nach hinten auf den nachfolgenden Verkehr.

Wichtig dabei: Nach dem Blick in Rück-, Seitenspiegel und über die Schulter wird die Tür zunächst nur einen Spalt breit geöffnet, um Kollisionen mit vorbeifahrenden Fahrzeugen – insbesondere auch mit Rad- und Motorradfahrern zu vermeiden. Erst wenn die Luft rein ist – also sobald der nachfolgende Verkehr es zulässt –, wird die Tür weiter geöffnet, um auszusteigen.

Wer besonders umsichtig ist, bittet vor dem Aussteigen auch seine Passagiere, die Türen à la hollandaise zu öffnen. Auf diese Weise kann jeder ein wenig dazu beitragen, dass die rücksichtsvolle Griffkultur auch hierzulande weiter um sich greift. Großbritannien, der US-Bundesstaat Massachusetts und Down Under, South Australia, machen es vor: Sie haben den Dutch Reach bereits in ihre offiziellen Empfehlungen für den Straßenverkehr aufgenommen.

Zweiradfahrer sind ebenfalls gut beraten, beim Passieren parallel parkender Fahrzeuge besondere Vorsicht walten zu lassen: Ein Meter Mindestabstand, erhöhte Aufmerksamkeit und auch ein Helm können helfen, ungewünschte Zusammentreffen zu vermeiden oder deren Folgen zu mildern. Weitere Informationen dazu auf der DVR-Website.

Statt auf gut Glück: Schulterblick

Der prüfende Blick über die Schulter ist jedoch nicht nur beim Verlassen des Fahrzeugs entscheidend. Etliche gefährliche Situationen oder gar Unfälle bei Spurwechseln und Überholmanövern lassen sich vermeiden, wenn das Blicktrio komplett ist: Rückspiegel, Seitenspiegel, Schulterblick.

Moderne Fahrzeuge verfügen über Assistenzsysteme wie z. B. Toter-Winkel-Assistent, die derlei Fahrmanöver noch sicherer machen sollen. Von der Verantwortung entbinden sie indes nicht.

Der Blick nach hinten wird mit zunehmendem Alter zwar nicht leichter, aber auch nicht weniger wichtig. Meldungen von Verkehrsunfällen mit Senioren als Unfallverursacher lassen regelmäßig Diskussionen über Altersgrenzen fürs Autofahren aufflammen, die in Kommentarspalten und sozialen Medien teilweise sehr emotional geführt werden. Auch der BAVC wird in dieser Frage regelmäßig um Stellungnahme gebeten.

Alter ist nicht das einzige Kriterium für die Fahrtauglichkeit. Entscheidender sind körperliche und mentale Fitness. Rund 85 % aller über 65-Jährigen fahren noch Auto. Im ländlichen Raum sind Viele mangels Alternativen darauf angewiesen. Einer ganzen Generation einfach so den Lappen wegzunehmen, kann also nicht der richtige Weg sein. Die eigene Fahrtauglichkeit richtig einzuschätzen und optimal zu erhalten, ist nach Lage der Dinge der bessere. Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) hält auch Informationen und Anregungen für die bereit, die schon ein paar Kilometer mehr auf dem Tacho haben.

Der Blick aufs Ganze

Aber auch ein anderes Phänomen kann in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein, wie eine jüngst veröffentlichte Umfrage unter 30- bis 59-Jährigen des Allensbach-Instituts nahelegt: Aus der im Auftrag des Gesamtverbands der Versicherer (GDV) im Juli 2019 durchgeführten Untersuchungsind die Deutschen mittleren Alters mehrheitlich der Ansicht, dass sich die Gesellschaft in den vergangenen Jahren zum Negativen verändert hat. So gaben 51 Prozent an, dass aus ihrer Sicht die negativen Veränderungen überwiegen, nur 16 Prozent sahen einen Wandel zum Besseren.

Auf die Frage zur gesellschaftlichen Stimmung gaben 81 Prozent an, dass die Aggressivität in Deutschland zunehme. Auf Platz zwei (77 Prozent) rangierte die Diagnose, dass immer mehr Menschen unter Zeitdruck stünden. Platz drei der die Gesellschaft prägenden Faktoren belegt wachsender Egoismus, den 73 Prozent der Befragten beklagten.

90 Prozent der insgesamt 1.100 befragten Personen nehmen eine wachsende Aggressivität im Straßenverkehr wahr. 59 Prozent sehen rücksichtsloses Verhalten auf der Straße und auf öffentlichen Plätzen als Problem an.

Vielleicht eine gute Gelegenheit, an dieser Stelle noch einmal an Paragraf 1 der Straßenverkehrsordnung (StVO)zu erinnern. Sie stammt aus dem Jahr 1934, hat schon ein paar Novellen und Neufassungen erlebt und ist mit 85 Jahren bereits ein bisschen älter als unser Grundgesetz, das 2019 seinen 70. feierte. Unverändert geblieben aber ist das Gebot der Vorsicht und Rücksicht. Und damit ist nicht nur der Schulterblick gemeint.

StVO § 1 Grundregeln

(1) Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.

(2) Wer am Verkehr teilnimmt, hat sich so zu verhalten, dass kein anderer geschädigt, gefährdet oder, mehr als nach den Umständen unvermeidbar, behindert oder belästigt wird.

 

 

 


Illustration: scusi/ PEAK.B

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