Frauen verunglücken anders als Männer.

Studien zu Unterschieden im Fahrverhalten von Männern und Frauen gibt es durchaus. Auch wir haben an dieser Stelle bereits darüber berichtet. Unüblich sind hingegen Untersuchungen zu Unterschieden zwischen Männern und Frauen und ihren Verletzungsarten bei Verkehrsunfällen. Eine im Mai 2022 veröffentlichte Studie aus Großbritannien will das ändern. Und sie fördert Erkenntnisse zutage, die Versäumnisse in Fahrzeugbau und Crashtest-Praxis offenlegen.

Trotz aller Sicherheitstechnik sind Verkehrsunfälle nach wie vor ein gravierendes Problem. Jahr für Jahr verlieren weltweit rund 1,35 Millionen Menschen bei Unfällen mit Fahrzeugen ihr Leben. Hinzu kommen 20 bis 50 Millionen Verletzungen pro Jahr, die Menschen dabei erleiden.

Weshalb geschlechtsblinde Forschung ein Problem ist.

Angesichts dieser Zahlen sind auch die Autoren der im BMJ-Fachjournal veröffentlichten Studie überrascht: Bisher ist noch niemand der Frage nachgegangen, ob es geschlechtsspezifische Unterschiede in den Verletzungsmustern oder Art der Einklemmung bei verunglückten Fahrzeuginsassen gibt. Und sie weisen in diesem Zusammenhang auf eine ebenfalls bemerkenswerte Tatsache hin:

Die meisten Untersuchungen präsentieren zwar demografische Basisdaten nach Geschlecht. Jedoch werten die wenigsten Studien ihre Ergebnisse nach geschlechtsspezifischen Auffälligkeiten aus, also nach möglichen Unterschieden zwischen Männern und Frauen.

Um zu verdeutlichen, welche Folgen eine derart geschlechtsblinde Forschung haben kann, führen die Autoren das Beispiel der Forschung zur Symptomatik von Herzinfarkten an. Indem Symptome, die bei Frauen festgestellt wurden, als „atypisch“ bezeichnet würden, erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen einen Herzinfarkt erleiden, um 50 Prozent.

So stellt sich zurecht die Frage, ob Symptome, die von der Hälfte der Bevölkerung erlebt wurden, als atypisch bezeichnet werden sollten?

Wie klein ist der kleine Unterschied?

Geschlechtsblinde Forschung als Ausdruck von Gleichbehandlung oder Gleichberechtigung zu betrachten, führt also in die falsche Richtung. Und das mit teils fatalen Konsequenzen. Um Gleichbehandlung herzustellen, scheint es stattdessen viel eher notwendig zu sein, die Unterschiede zu identifizieren und mit den Kausalitäten in Beziehung zu setzen: anderer Körper, andere Konsequenzen.

Für die Studie wurden die Daten von 70.000 Patienten bzw. Unfallopfern ausgewertet. Sie nimmt für sich in Anspruch, die bisher umfangreichste Analyse zu sein, die ihre Patientendaten zu den bei Fahrzeugunfällen erlittenen Verletzungen nach Geschlecht aufschlüsselt und auf diese Weise wesentliche Unterschiede in der Art der Verletzung und der Art des Einklemmzustands im Fahrzeug sichtbar macht.

Die geschlechtsspezifischen Unterschiede werden dabei noch einmal untergliedert in biologische und verhaltensbezogene. Biologische Unterschiede äußern sich etwa in Körpergröße, Muskelmasse und Hormonhaushalt. Verhaltensbezogene Unterschiede zeigen sich im Fahrverhalten, im Verhalten nach dem Unfall sowie auch im Umgang der Rettungskräfte mit dem Unfallopfer bei der Befreiung aus dem Fahrzeug.

Unterschiede im Grad der Verletzungsschwere

Weibliche Unfallopfer weisen der Studie zufolge einen geringeren Grad der Verletzungsschwere auf als männliche und waren zudem auch tendenziell älter. Bezogen auf die Gruppe der Unfallopfer, die im Fahrzeug eingeklemmt waren und befreit werden mussten, zeigte sich dieser Unterschied noch deutlicher.

Als Erklärung führen die Autoren der Studie Unterschiede zwischen Männern und Frauen in Fahrverhalten und Nutzungsintensität an: Männer fahren schneller und riskanter. Und sie legen insgesamt mehr Kilometer zurück als Frauen. Daraus folgt, dass sie vergleichsweise auch in mehr Unfälle verwickelt sind, was zu einer höheren Verletzungs- und Sterblichkeitsrate führt.

Bei den älteren Unfallfahrern hingegen überwiegt der Anteil der Frauen. Im Vergleich zu gleichaltrigen Männern und bezogen auf die gefahrenen Kilometer ist ihr Risiko höher, bei einem Unfall verletzt oder getötet zu werden. Das höchste Risiko pro gefahrene Million Kilometer hat jedoch eine andere Gruppe: junge Männer. Sie erleiden beim Autofahren am häufigsten schwere Verletzungen oder verlieren dabei ihr Leben.

Unterschiede in der Art der Verletzung

Während männliche Unfallopfer, die eingeklemmt werden, eher schwere Verletzungen an Kopf, Gesicht, Brust und Gliedmaßen davontragen, erleiden weibliche Unfallopfer häufiger Verletzungen der Wirbel, des Rückenmarks und des Beckens. Als mögliche Ursachen für die Unterschiede in den Verletzungsarten nennen die Autoren der Untersuchung drei Faktoren:

  • Fahrzeugnutzung (wie bereits erwähnt) sowie Unfalltyp und das daraus resultierende Verletzungsmuster
  • Wirksamkeit und Verfügbarkeit der Sicherheitssysteme
  • biologische Neigung zu bestimmten Verletzungsarten

Faktor Unfallsituation und Verletzungsmuster

Zur Erklärung dieses Faktors verweisen die Studienautoren auf eine Analyse des in Großbritannien ansässigen STATS V.19 MVC-Registers. Der zufolge sind für männliche Fahrer eher Unfälle beim Vorwärtsfahren typisch (Männer: 64,2 %, Frauen: 56,5 %). Dafür bauen Frauen häufiger Unfälle beim Rangieren (Frauen: 16,1 %, Männer: 11,9 %) oder Wenden (Frauen: 10,7 %, Männer: 8,4 %). Diese Befunde stützten auch Erhebungen aus den USA mit ähnlichen Ergebnissen.

Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Unfallsituationen erklären auch, weshalb Männer mit höherer Wahrscheinlichkeit in Unfälle mit Frontalaufprall verwickelt sind und die damit einhergehenden typischen Verletzungen davontragen: Kopf-, Gesichts- und Brustverletzungen sowie Verletzungen an den Gliedmaßen. Unfälle mit Seitenaufprall hingegen sind eher typisch für Frauen. Sie führen erfahrungsgemäß häufiger zu schweren Wirbelsäulenverletzungen und seitlichen Kompressionsfrakturen des Beckens.

Faktor Sicherheitssysteme

Die Autoren der Studie merken an, dass bereits in der Auslegung der Sicherheitssysteme im Fahrzeug Prioritäten festgeschrieben sind: Sie sind für Passagiere weniger effektiv als für Fahrer, und sie sind darauf optimiert, die Wucht bei Frontalkollisionen zu minimieren. Mit Blick auf die vorgenannten typischen Muster der Männer- und Frauenunfälle liegt also der Schluss nahe, dass sie primär darauf ausgelegt sind, Männer am Steuer im Falle eines Unfalls zu schützen.

Wie frühere Untersuchungen zeigten, sind Frauen eher geneigt, den Sicherheitsgurt anzulegen, wodurch sie ihr Risiko multipler und schwerer Verletzungen und der damit verbundenen Sterblichkeit reduzieren.

Dass Frauen von den in modernen Autos verbauten Sicherheitssystemen weniger profitieren, hat den Autoren der Studie zufolge aber noch andere Gründe: die in Crashtests verwendeten Dummys. Statt den Frauenkörper anatomisch und biomechanisch korrekt nachzuempfinden, werden männliche Puppen schlicht prozentual verkleinert. Auch diesen Umstand machen die Autoren der Studie dafür verantwortlich, dass die Sicherheitssysteme eher auf Männer ausgelegt sind.

Als Beispiel führen sie Schutzsysteme gegen Schleudertrauma an. So hätten Experimente mit weiblichen Dummys eine höhere biomechanische Reaktion im Halsbereich gezeigt. Dies könnte also auch eine Erklärung für die erhöhte Rate von Wirbelsäulenverletzungen sein, wie sie in der Studie festgestellt wurde.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Tatsache, dass Frauen eher kleinere Autos fahren. Diese sind erfahrungsgemäß mit weniger effizienten Sicherheitssystemen ausgestattet, was ihre Fahrerinnen zusätzlich einem höheren Verletzungsrisiko aussetzt.

Faktor biologische Neigung zu bestimmten Verletzungsarten

Der Studie zufolge sind Frauen auch ihrer Natur nach anfälliger für bestimmte Verletzungsarten. Hierbei spielten Alter, biologische Unterschiede sowie die Neigung zu Erkrankungen wie Osteoporose eine Rolle. Wie ist das zu verstehen?

Frauen unterscheiden sich körperlich von Männern in einer Weise, die sie für bestimmte Verletzungen und Einklemmungen bei Verkehrsunfällen anfälliger macht. Sie haben zum Beispiel breitere Beckenmaße und kürzere Oberkörper. Diese breitere weibliche Beckengeometrie macht sie bei einem Seitenaufprall anfälliger für Verletzungen im Beckenbereich.

Außerdem haben Frauen eine geringere Skelettmuskelmasse als Männer. Ihre Bänder sind hormonell bedingt lockerer als die von Männern und ihre Halswirbel sind kleiner als bei Männern mit gleicher Kopfgröße. Letzteres kann ebenfalls die höhere Rate an Rückenmarksverletzungen bei Frauen miterklären.

Hinzu kommen Veränderungen in der Knochenzusammensetzung nach der Menopause. So haben Frauen im Alter einen um 50 % Prozent größeren Knochenverlust als Männer. Das macht es ebenfalls wahrscheinlicher, dass sie bei Verkehrsunfällen Knochenbrüche erleiden.

Warum werden Frauen häufiger im Fahrzeug eingeklemmt als Männer?

Die Wahrscheinlichkeit, bei einem Unfall im Fahrzeug eingeklemmt zu werden, ist der Studie zufolge für Frauen höher als für Männer (Frauen: 15,8 %, Männer 9,4 %). Und sie benennt folgende Faktoren als Ursache dafür:

Das Alter

Wie die Studiendaten zeigten, ist das Durchschnittsalter der eingeschlossenen Frauen deutlich höher als das im Fahrzeug gefangener männlicher Unfallopfer. Dass Frauen seltener in der Lage sind, sich selbstständig aus dem Unfallfahrzeug zu befreien, könnte also auch am höheren Grad ihrer Gebrechlichkeit liegen.

Die Sitzposition

Frauen sitzen aufgrund ihrer geringeren Arm- und Beinlänge näher am Lenkrad als Männer. Kommt es zu einem Unfall, ist es infolgedessen wahrscheinlicher, dass sie von Armaturenbrett und Lenkrad eingeklemmt werden.

Die höhere Wahrscheinlichkeit von Verletzungen an Becken und Wirbelsäule

Wer sich an Becken oder Wirbelsäule verletzt und starke Schmerzen hat, ist seltener in der Lage, sich aus eigener Kraft aus dem Fahrzeug zu befreien.

Das Vorgehen der Rettungskräfte

Statt gebrechliche ältere Frauen zur Selbstbefreiung zu ermuntern, werden die Einsatzkräfte vor Ort sie sicherheitshalber aus dem Fahrzeug herausschneiden. Dass dieses Vorgehen favorisiert wird, kann ebenfalls damit zu tun haben, dass Frauen häufiger Verletzungen an Becken und Wirbelsäule davontragen.

Wie gegengesteuert werden kann

An den Unterschieden im Fahrverhalten und der Anatomie von Männern und Frauen dürfte sich wenig ändern lassen. Damit auch Frauen in Unfallsituationen möglichst optimal geschützt sind, müssen die Möglichkeiten der Fahrzeugkonzeption und der Sicherheitssysteme ausgeschöpft werden.

„Männerautos“, die darauf ausgelegt sind, Verletzungen an Kopf, Gesicht, Brust und den Gliedmaßen zu minimieren, werden dieser Aufgabe bisher nicht gerecht. Deshalb Autos speziell für Frauen zu bauen, greift ebenfalls zu kurz. Vielmehr braucht es Fahrzeuge, die Männern und Frauen in puncto Sicherheit gleichermaßen Rechnung tragen. Und das setzt die Einsicht voraus, dass der kleine Unterschied wohl doch ein bisschen größer ist.


 

 

 


Foto: gopixa

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